Ich bin hell. Du bist hell. Er/sie/es sind hell.

Von meinem Zimmerfenster aus, sehe ich die Bahnen im Minutentakt in das dunkelgraue Bahnhofsgebäude rauschen. Wie nackte Schnecken schlängeln sich die Züge, auf der Suche nach Schutz, in das marode Gebäude. Manchmal, wenn ich etwas zu lange wach bin und sich der Zigarettenrauch vor meine Augen schiebt, glaube ich, dass der Bahnhof eine Illusion ist. Eine Illusion der Pendler, Mütter mit Kinderwägen und Halbstarken, die herumstehen und Bier trinken.
Ich glaube, nein ich weiß, dass der Bahnhof viele Geheimnisse trägt. Einige eingemauert, andere schweben frei herum.
Mit jedem Menschen, der sich vom Bahnsteig in einen Zug begibt, verschieben sich Lügen und setzen sich in Bewegung. Gesten und heute. Morgen und übermorgen.
Wenn ich einmal in einen Zug steige sehe ich bei der Abfahrt manchmal die Umrisse meines stetig wartenden Ichs.
Ich führe in diesem Moment ein Doppelleben. Ein Leben des Stillstandes und eines der Bewegung. Ich glaube dennoch, dass die Wahrheit meines wirklichen Daseins irgendwie dazwischen liegt. Zwischen Zug und Bahnsteigkante. Zwischen gut und böse. Zwischen dem Hier und dem Jetzt.
Mich fasziniert auch die Idee des nächsten Bahnhofes. Erst in dem Moment in dem ich ankomme, weiß ich, dass er existiert. Sic mundes creatus est . Wie fühlt es sich wohl an, wenn die Welt um dich nur wenige Sekunden vor deinem Eintreffen entsteht?
Was ist, wenn jeder nur einen oder zwei Quadratmeter gebastelter Welt mich sich herumträgt und allein durch die Kreuzwege entsteht die Stadt, in der wir leben?
Die Frage ist nur, ob eine einmalig erschaffene Welt für immer besteht? Nach dem Motto: Was man sät, das wird man ernten. Oder sind wir allein die Nutznießer in den von fremder Hand erschaffenen Weltabschnitte?
Bei den ganzen philosophischen Gedanken schmerzt mein Kopf.
Dazu trägt auch das grelle Licht des wackelnden Wagonabteils bei.
Die Welt vor dem Fenster verschwimmt. Das ganze Außen wird zu einer Masse. In diesem Moment ist im Außen alles Jetzt. Alles ist jetzt.
Wir halten abrupt an.
Vor uns steht ein Zug. Wir können nicht weiterfahren. Aus Langeweile nehme ich wahr wie der Zug mit den Schienen verschmilzt. Und dann verschmelze ich mit dem Zug. Wir werden eins. Das Mondlicht fällt auf die zerkratzen Scheiben. Das Graffiti an der Wand erleuchtet. Ich erkenne Zeichen. Omega und Alpha.
Dann steigt eine alte Frau ein und verscheucht mich berechtig von meinem Sitz. Die Zug-Ich Symbiose löst sich auf und so auch die Illusion.

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