Gedankenwelt und Herzrasen

Im Sinn der Möglichkeit, dass wir uns irgendwann in einer lauten Welt verlieren, strecke ich meine Hand nach dir aus. Jede Sekunde, die sich unsere Zeigefinger berühren, untermalt deutlich die Illusion, dass ich meine Realität mit irgendeinem anderen Menschen teilen kann. Denn die eigene Realität ist unteilbar. Unteilbar und vielseitig mit Vergangenheit und Gegenwart der eigenen Existenz verstrickt. Und doch können wir uns mit einer anderen Person in Momenten der Übereinstimmung auf ein ähnlich (ja fast gleich) empfundenes Geschehen einigen. Wie beispielsweise wenn eine volle Blumenvase umfällt, dann könnte der Konsens entstehen, dass nun die unmittelbare Umgebung des Gefäßes nass ist.

Komplexer wird es aber, wenn es um die innere Lebenswelt des Individuums geht. Kein Gedanke gleicht einem anderen, keine Idee tritt exakt zweimal auf. Jedes fremdgesprochene Wort wird im Filter der eigenen Wahrnehmung auf eine Art bearbeitet, die jeglichem Einfluss entgleitet. Verfälscht, gar losgesagt von der Intention des Seders, taumeln auf diese Art Informationen zwischen Personen umher. Manchmal, da frage ich mich, wie Kommunikation überhaupt gelingen kann.

Denn sogar die Kommunikation zwischen Ratio und Emotion scheint komplizierter, als ich in jungen Jahren angenommen habe. Ich musste erst Ende 20 werden, um zu verstehen, dass nur weil wir etwas besser Wissen (und ja, das war schon allein ein langer Weg), es nicht bedeutet, dass wir auch einwandfrei handeln. Denn ein Gefühl kann, in Momenten, auch den sortiertesten Kopf aus der Bahn werfen und ihn bis zur Handlungsunfähigkeit bringen. Denn in einem Kopf, in dem es immer ein Plan gibt, herrsch Chaos, sobald sich Fäden der Emotionen so niederlegen, dass sie keinen Ausweg lassen. Keinen geplanten Ausweg zumindest. Einen Ausweg, den wird es wohl immer geben.

Mein Ausweg aus Gedankenwelt und Herzrasen ist mir darüber im Klaren zu sein, dass das Leben doch genau das ist: Gedankenwelt und Herzrasen. Manchmal warte ich aber ein bisschen zu lange mit der genannten Klarheit. So lange bis der Ausweg eine andere Form annimmt und zwar die salzigen Wassertropfenform, die meine Wangen herunterläuft. Dann frage ich mich manchmal, ob ich zulange gewartet habe. Mit Worten, die Gedanken hätten sein sollen. Oder ob ich wohl noch länger hätte warten müssen. Mit Gedanken, die zu Worten hätten werden müssen. 

Manchmal, das wirst du wohl schon bemerkt haben, verliere ich mich in dieser lauten Welt. Und manchmal (wohl fast immer) ist das auch in Ordnung so. Denn diese laute Welt, kann mit dir ganz leise sein. Ein gutes „leise“ mit einem sehr guten „wir“. 

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Ein abenteuerlicher Dialog

Die Krise hält sich nicht an Regeln. Und solange wir nicht gestorben sind – sind wir noch am Leben. Diese Relativierung hilft sehr, obwohl der Tod nun wirklich überall lauert. Seit Tagen herrscht in meinem Gehirn wirkliches Chaos. Auf meinem Computer herrscht Chaos. In meinem Herzen herrscht Chaos. In meinen Fingerspitzen herrscht Chaos. Wir schwiegen zu viel, als wir hätten reden müssen und wir redeten zu viel, als wir hätten schweigen sollen und nun befinden wir uns in dem Strudel der endlosen Angst, in der sich Richtigkeit vom Falschen kaum noch unterscheiden lässt. Auch in dir herrscht seit Tagen Chaos und die Frau von gegenüber wirkt auch wie Chaos. Und sogar meine Zimmerpflanzen versprühen Chaos. Ich kann Chaos riechen, schmecken – doch erblicken tue ich es in diesem Fall nur, wenn ich mich konzentriere. Der visuelle Eindruck vom Chaos hält sich in sofern in Grenzen, als das wir durch suboptimale Erklärungen uns das eigene Blickfeld schönreden können. Aber sich einen Geruch oder einen Geschmack schönzureden ist schwierig.  

An manchen Tagen, wenn ich mit dir rede, dann hört sich alles was du sagst an, wie ein großer ironischer Witz. Jedes Wort ist nicht ernst und dann doch wieder ernst gemeint. Es ist ein verflochtenes Versteckspiel, das du da betreibst. Und hinterher fühlen wir uns alle leer.

Heute hat meine Therapeutin gesagt, ich solle meinen Gefühle auf ein Whiteboard schreiben. „AHHHHHH“ war das Einzige was mir einfiel. Sie schaute sehr lange und sehr stillschweigend auf die Buchstaben. Dabei kam in mir die Frage auf, ob bei ihr gerade ein Chaos entfacht wurde oder ob das Chaos sowieso schon lange in ihr zuhause ist, genau wie es in der Frau von gegenüber schon lange zuhause ist. 

So oder so unterbracht sie irgendwann die Stille.

Schön, dass wir keine ahnungslosen Idioten sind und doch fühlt es sich gerade so an, als würden wir als Gesellschaft in Zeitlupe gegen eine Wand fahren. Einige schreien „Achtung, eine Wand!“ und andere schreien „Hurraaa“ und andere sagen „der Aufprall wird schon nicht so schlimm“ und andere sagen „da ist keine Wand“ und wieder andere sagen „wir fahren doch überhaupt nicht, wir stehen still“. Doch im Stillstand, da bin ich mir zumindest sicher, würden wir uns alle auflösen. Nichts ist wirklich still. Außer das Herz eines Tornados – aber das wäre ein sehr kitschiges Ende, für einen doch ernst gemeinten Text.

Jeder Zustand hat seine eigene Zeit.

Ein Text über unerwartet Schönes, was nicht unerwartet ist. 

Jeder Zustand hat seine eigene Zeit. Dem Kontext größtes Lob, ist das Glück, welches empfunden wird, wenn es keinen Ort gibt, an dem man lieber sein möchte, als in dem vorherrschenden Moment. So sind wir zwei doch wie ein Tanz, bei der Angst und Risiko, mit Vernunft und Unvernunft umschlungen, sich zärtlich zu einem Ort bewegen, der von uns beiden nun nicht gekannt wird und sich zugleich anfühlt, als sei er schon lange unsere Heimat.
Wenn etwas, wie dieses, unerwartet Schön ist, so beginnen die Gedanken zu kreisen. Sie steigern sich, wenn man sie lässt, zu einem Tornado, der unaufhaltsam über alle Organe fegt. Niere. Leber. Herz. Gleichsam verwüstend, wie auch lindernd, zeigt die wild gewordenen Wucht an Ideen, was es meinen könnte nach Bedeutung zu streben. Bedeutung zu konsumieren. Bedeutung zu ertragen und zu betrachten und vor allem Bedeutung zu teilen. Miteinander. Für einander.
So stellt sich immer die Frage, was es zu verlieren gibt, sobald man gewinnt und was es zu gewinnen gibt, sobald man die Trägheit des Verlustes überwindet und sie mit Vertrauen übergießt?
Natürlich ist jedoch immer die Vergänglichkeit des Glücks zu überprüfen. Doch geschieht dies nur aus Angst selbst dabei verletzt zu werden, entwickelt sich Glück zu einer Last. Überprüft man die Vergänglichkeit von Glück mit wachsamem Tatendrang, der in der eigenen, sowie der gemeinsamen Reflexion mündet, so verändert dieser Vorgang das Glück an sich zu einer Beständigkeit, die sich wellenartig über das eigene Leben ausbreitet.
Unerwartet schön. Aber eigentlich gab es keine Erwartungen an uns. Passiert ist es trotzdem. Ganz ohne einer anfänglichen Idee. Ohne einem anfänglichen Ziel. Doch mit der Zeit, da sehe ich dich. Gegenwärtig. Zukünftig. Und nun auch schon in der Erinnerung. Es ist nämlich so – wenn ich loslasse, dann falle ich nun nicht mehr tief. Und das ist unerwartet schön. Ohne je einer Erwartung zu bedürfen.

Du kamst nicht gut geradeaus, aber um die Kurve schafftest du’s immer.

Wer wusste schon, wie weit wir sind, wenn wir die Welt nicht verfolgen, als sei sie die unsere?
Die Noten hängen an der Decke ohne zu verstehen, was genau für sie der Sinn ist, um nicht aufzugeben.
Ich wollte einfach verstehen, wieso deine Augen so groß werden, wenn du mich ansiehst. Aber bekommen habe ich nur diesen einen Blick. Diesen einen Blick. Diesen einen Blick.

Ich habe immer gedacht ich könnte dir einmal schreiben, um dich aufzufangen, um dir zu sagen, dass alles okay wird. Okay ist. Aber du hörtest nicht zu, als du dir den roten Schal von Valentina über die Augen zogst und dich etwas nach vorne beugtest. Du hörtest sowieso nie zu, ob mit oder ohne Schal. Für dich war alles ein bisschen so, wie für andere Urlaub. Du kamst nicht gut geradeaus, aber um die Kurve schafftest du’s immer. Ich bin geschockt von all dem was ist und von all dem was bleibt und von der Unaufmerksamkeit, die mich täglich umgibt, dabei möchte ich doch eigentlich nur verstehen, wie weit wir gehen sollten, um nicht gegen irgendeine Wand zu laufen. 

Ich verliebe mich in dich, in einem Dönerladen. Du stehst am Kühlschrank und siehst krank und gleichzeitig gesund aus und ich kann dich alles fragen. Alles was mir wichtig ist und du hörst zu und du sagst immer etwas.
Manchmal, da verstehe ich deine Antworten zwar nicht, aber das ist auch egal. Es ist egal, weil wir sowieso auf das Morgen warten, währenddessen sich Kundin hinter Kunde an uns vorbeischlängeln, als seien wir Schaufensterpuppen in unserer eigenen Run-Way-Show. 
Es war unerwartet schön, ohne unerwartet zu sein, denn wir erwartetet nichts. Nichts von uns und auch nicht von der Cola, die du nach vielen Minuten aus dem Kühlschrank fischtest. Ich frage mich manchmal, wie dir wohl die Cola schmeckt. Wie dir Wasser schmeckt. Wie dir das Leben schmeckt.
Als es zu Dämmern begann, holten wir unsere Fahrräder von der Straßenecke. Es war eine klare, kalte Nacht, die uns amüsierte. Eine amüsierende kalte Nacht, die klar war. Eine klare, amüsierende Nacht, die uns kalt um die Ohren sauste. Genauso wie die Kälte sauste, sauste auch die Zeit an uns vorbei. Und wir wachten auf, mit dem Gefühl alles zu haben, aber nichts zu verstehen. Also zogen wir weiter, auf der Suche nach der einen Tat, die alles bedingen würde. Nur um kurz darauf festzustellen, dass wir bereits angekommen. Am Anfang unserer Suche. 

Foto: Johannes Franke mit Kristina und mir in unserem Wohnzimmer.

Als ich dich kennenlernte, warst du betrunken.

„Für immer“ schreibst du mir. Ich lege das Handy weg und starre an die Decke. Ich hab dich kennengelernt, da warst du betrunken. Du standest an der Haltestelle, an der die Busse einen ganz weit weg fahren. So weit, dass man nicht mehr die Sprache spricht oder weiß wo der nächste Kreisverkehr ist. So weit, dass man in den Himmel guckt und das Sternbild ist verkehrt herum oder ganz und gar anders. So weit, dass es ganz viel Geld kosten würde jemanden anzurufen oder gar einen Brief zu schicken.
„Kennen Sie Gregor?“ fragte ich dich, weil ich wusste, dass es kein gutes Zeichen war, wenn jemand betrunken alleine an der Haltestelle stand, an dem die Busse einen ganz weit wegbringen.
Du gucktest äußerst verwirrt und das nahm ich dir nicht übel. 
Irgendwann da hatte ich nämlich begonnen, traurige Personen danach zu fragen, ob sie Gregor kennen. Es ist verrückt wie wenige Menschen einen Gregor kennen. Und daher denken die traurigen Personen dann ganz viel nach, ob ihnen vielleicht irgendwann mal ein Gregor begegnet war, in einer Bar oder bei einem Meeting, oder bei einer Dinnerparty eines Freundes. Meist lautet ihre Antwort jedoch „nein“, was mich wiederum dazu brachte immer irgendeine Geschichte über einen Gregor zu erfinden, die in der Situation, in der sich die trauriger Person befand, angemessen war. 

„Gregor ist bei mir ausgezogen“, sagte ich zu dir „und er hat richtig guten Tee zurück gelassen, wissen Sie, Gregor liebte Tee, einmal da war er in Peru und…“, ich unterbracht mich selbst, um in meinem Geschichtenkonstrukt nicht unterzugehen „naja, also wenn Sie wollen, dann biete ich Ihnen einen Tee von Gregor bei mir zuhause an. Keine Sorge Gregor ist auch nun wirklich schon eine Weile weg.“
Ich weiß nicht genau wieso mir Menschen in der Regel sehr vertrauen. Auf jeden Fall saßt du wenige Minuten später bei mir am Küchentisch und schautest in deine Teetasse, mit einem Kräutertee von Rewe, nicht von Gregor und du schienst ein wenig glücklicher zu sein. 

Du erzähltest mir von der Liebe und wie sie dich enttäuscht hatte. Du erzähltest mir von deiner Mutter und wie sie dich enttäuscht hatte. Du erzähltest mir von deinem Beruf und wie er dich enttäuscht hatte. Irgendwann brachst du in Tränen aus. Und die Tränen floßen überall hin. Über deine Wangen, über deinen Hals, über dein T-Shirt, über den Tisch und manche hingen sogar an der Teetasse fest. Ich wickelte dich in eine Decke ein und legte dich aufs Sofa. Da lagst du noch eine Weile mit offenen Augen, schautest in die Kerzen, die vor dir standen, bis dich der Schlaf von deinem Schmerz erlöste. 

An diesem Abend ging ich nicht gleich ins Bett. An diesem Abend hatte ich auch keine Angst. Nicht vor dir oder vor deinem Schmerz. Ich hatte keine Angst vor der Welt oder vor der Zukunft.

Anstatt Angst zu haben, ging ich auf meinen Balkon um zu rauchen. Ich rauche eigentlich nicht, aber du hattest irgendwann zwischen deinen Geschichten eine Schachtel Zigaretten auf den Tisch gelegt, ohne sie anschließend weiter zu beachten. 

Ich blies den Rauch aus meinen Lungen in den Nachthimmel und versuchte Sinn aus einigen meiner Gedanken zu machen. 

Am nächsten morgen blieb nur ein nass-geweinter Zettel mit deiner Telefonnummer zurück.

Halbkreise

Siebenundzwanzig. Achtundzwanzig. Neunundzwanzig. Die nötigen Erinnerungen erlöschen im Minutentakt. Ein Bus kommt. Du steigst ein. Ich steige ein. Wir fahren für eine Weile. Häuser weichen Feldern. Felder weichen Häusern. Es riecht anders. Du riechst anders, als du mir näher kommst. Nur, weil ich etwas will, ist es nicht gleich richtig. Nur weil du etwas verachtest, wird es nicht falsch. Über uns bricht eine Welle von Emotionen herein. Sie schleudert uns bei jeder Bodenwelle gegen die Sitzreihen, gegen die Seitenfenster, gegen die Notbremse. Langsam, nur langsam kommen wir zum stehen. 

Du läufst mir eine Zeit lang hinterher. Die Dunkelheit schluckt den Trubel des Tages und die Lichter spiegeln sich in den Windschutzscheiben der parkenden Autos. Irgendwann drehe ich mich um. Du bist weg. 

Ist das Reflektieren vom eigenen Verhalten und der eigenen Wahrheit nicht der Schatten, der den mündigen Menschen begleitet? Ein Schatten, dem sie sich bewusst ist. Ob in der Bar, am Schreibtisch oder vor dem Fernseher. Ein Schatten, der nobel und zugleich schmerzhaft zu seien scheint. 

Ich sitze in dem Laden, in dem es Bagels und richtig guten Kaffee gibt und von dem man aus den Kreisverkehr sehen kann. Autos in allen Größen und Farben schlängeln sich unauffällig vorbei. Sie tanzen einen Halbkreis miteinander, bis ihr eigener Weg sie dazu zwing die Gemeinschaft zu verlassen. Ich fühle mich gut. Ich fühle die Anwesenheit meiner Freunde, auch wenn sie nicht das sind. Ich fühle mich gut. Ich fühle mich gut. Ich beiße vom Bagel ab. Ich fühle mich gut. Ich trinke einen Schluck Kaffee und dann noch einen und dann kommen mir dir Tränen und trotzdem fühle ich mich gut. Ich weine große Wassertropfen, die auf den Tisch vor mir fallen. Ein Herr mit Hut kommt vorbei. Er legt mir eine Hand auf die Schulter. Wir kennen uns schon lange. Und dann, dann schauen wir den Autos beim tanzen zu und sind für eine ganze Weile ganz still. 

Zwischen Berlin und München.

Wir haben viel Zeit miteinander verbracht. Auf deinem Dachboden. In dem Café an der Ecke. An dem kleinen Strand vor dem Haus deiner Tante. Der kleine Strand, der uns gehörte. Für einen ganzen Sommer. Der Strand, an dem du deine Zehen im Sand vergrubst, wie ein Kind seine Finger im Kuchenteig. Der Strand, an dem du liebevoll deinen Arm um mich legtest, um mir zu zeigen wie echt alles ist. Also wie echt du bist und wie echt wir sind.

Irgendwann habe ich mich dann aufgehört zu fragen, wieso du mich so anschaust, als wären ich deine Lieblingseissorte. Stracciatella, sagst du. Und ziehst deine Lippe dabei etwas hoch. Stracciatella sei das Beste vom Besten. Dann küsst du meine Nasenspitze. Und ich lasse es einfach zu.  Dann gehe ich zur Arbeit.

Montags arbeite ich nämlich am Flughafen. Es ist ein sonderbarer Ort. Gehandelt wird mit Fernweh und schicken Geschäftsreisen. Wer mit dem Flugzeug zum Job fliegt, der trägt meist kabellose Kopfhörer und eine Portion Autorität mit sich herum. Die Kopfhörer im Ohr und die Autorität auf den Schultern. 

Ich arbeite in einem kleinen Laden, der Rollkoffer verkauft. Ich traue Niemandem, der den Laden betritt. Ich traue ihnen nicht, weil doch jede Person, die am Flughafen erscheint, bereits einen Koffer hat. Und die, die keinen Koffer haben und mit leeren Händen auf Reisen gehen, oder womöglich ihre Socken und Hosen lose auf den Tresen legen, diejenigen haben immer irgendwas nicht verstanden. Irgendwas, was für andere Menschen ganz selbstverständlich ist. Jonathan zum Beispiel. Jonathan war groß. So groß, dass er sich bücken musste, um nicht an die unechten Pflanzen zu stoßen, die von der Ladendecke hingen. Unecht, weil kein Sonnenlicht in den Laden gelangte. Unecht, weil niemand in einem Laden am Flughafen, der Rollkoffer verkauft überhaupt Pflanzen wertschätzen würde. Unecht, weil sie einfach vergessen werden konnten. Sowie ich manchmal auch vergaß, dass ich niemandem, der Rollkoffer an einem Flughafen kauft, vertrauen sollte. Ich vergaß es, als sich Jonathan das erste Mal zu mir runter bückte. Er hatte blaue Augen. Wirklich blau. Und er sagte, er hätte mich schon oft gesehen, im vorbeigehen. Er pendle, sagte Jonathan. Zwischen Berlin und München. Sein Anzug sei von Hugo Boss und seine Brieftasche aus echtem Leder. Wenn ich das nicht gut finde, sagte er, dann soll ich ruhig ein Wort sagen. Er würde es verstehen. Ich sagte nichts. Ich fand es nicht gut. Aber ich sagte überhaupt nichts, in den ganzen Malen, die Jonathan in den Laden kam und ein Rollkoffer nach dem anderen kaufte. Jeden Montag eine andere Farbe. Ich lächelte, wenn ich ihm den Kassenbon übergab. Manchmal wollte ich ihm dabei einen schönen Tag wünschen, aber er redete und redete jedes Mal, bis sein neuer Rollkoffer und er auf dem Gang verschwanden. Ich vergaß Jonathan nicht zu trauen, weil ich mich nicht wehrte. Gegen seine Fragen, die viel zu persönlich waren und die er mich nicht einmal beantworten ließ, sondern immer selbst beantwortete. 

Jonathan kennt nichtmal deinen Namen, sagte Mina, als sie mit mir durch den Park spazierte. Mina ist die Sorte Frau, die nie nichts sagen würde. Sie sagt immer alles. Und einige. Einige viele haben deshalb vor ihr Angst. Aber ich habe keine Angst vor Mina. Und das weiß sie auch. Mina hat auch keine Angst vor mir. Obwohl eigentlich nichts und niemand vor mir Angst hat. Außer der Jagdhund von meinem Nachbarn über mir. Der Jagdhund heißt Kecks und Kecks zieht immer den Schwanz ein, wenn er mich sieht. Ich bin gekränkt von seinem Verhalten, aber freue mich auch ein bisschen, weil ich wohl auf Kecks furchteinflößend wirke. 

Ich verspreche Mina, dass ich Jonathan fragen werde, was er mit den ganzen Koffern macht, die er bei mir kauft. Stattdessen sehe ich, als ich wieder im Laden bin und Jonathan gebückt zur Tür hinein kommt, dass er einen Kaffeefleck auf seinem weißen Hemd hat. Und weil er von dem Fleck etwas beeinträchtigt scheint, bin ich schneller mit meinen Worten. Ich sage ihm, dass er einen Fleck auf dem Hemd habe. Danach sehe ich Jonathan nie wieder. 

Als ich nach Hause komme, sitzt du auf dem Sofa. Du hast Kuschelsocken an und schaust verliebt in ein Buch. Bücher faszinieren dich so sehr, wie andere das Weltall oder Filme über Naturwunder. Das mag ich an dir, obwohl du mich lange nicht bemerkst. Irgendwann lasse ich einen Teller fallen. Er zerspringt in Tausend Stücke.  Du blickst auf. Jetzt guckst du mich verliebt an. Dann skatest du mit deinen Kuschelsocken über den Boden, kommst vor den Scherben zum Stehen und nimmst mich in den Arm. Viel zu lange und viel zu fest würden andere sagen. Ich sag das aber nicht. Ich fühle deinen Herzschlag und trauere leise um den Teller. Es war ein Geschenk deiner Tante. Vor deren Haus, wir am Strand einen ganzen Sommer verbrachten. 

Die Gedanken eines Tages

Früher schrieb ich, um den Weltschmerz zu ertragen, der mich umgab. Heute, einige Jahre, Haarschnitte und Liebesbeziehungen später, schreibe ich, um mir bewusst zu werden woher mein persönlicher Weltschmerz kommt. Und ob nicht auch etwas Gegenteiliges in mir wohnt. Denke ich lang genug darüber nach, so bemerke ich das Kitzeln der Freude im Bauch. Die Liebe in Brust und Herz und die Bewunderung für die kleinen Momente. Lebensfreude ist nicht selbstverständlich, doch verstehe ich sie gut. Liebe ist nicht selbstverständlich und doch versteckt diese sich in kleinen Zwischenräumen. Zwischen Daumen und Zeigefinger, zwischen dem Hier und dem Jetzt, zwischen der Nähe und der Distanz, zwischen der Freiheit und der Bindung. 

Es macht mir Angst mich von meiner Angst zu lösen. Etwas loszulassen ist wohl schmerzhaft, aber was ist, wenn es auch gut tut? Wo war ich, als ich um dich weinte? Wo war ich, als ich mich um dich sorgte? Wo war ich, als ich gegen die Traurigkeit kämpfte, die meinen ganzen Tag einnahm? Ich war im Zwischenraum. Der nun, gefüllt mit Liebe, wie eine neue Welt erscheint. Der Zwischenraum, der in dem neuen Licht, im neuen Kontext, in der neuen Welt das Gegenteil von dem bedeutet, was sich Verletzung nennt. 

Ich renne nicht mehr, um wegzulaufen. Ich renne, um den Wind zu spüren, um irgendwann das Meer zu sehen, um irgendwann mein Herz bis aufs letzte Gefäß zu verschenken und zwar an dich, an mich, an die Wolken über meinem Kopf. 

Aller Anfang ist gut. Ende.

Aller Anfang ist gut – dachten wir, als wir Hand in Hand die Straße am See hinab liefen. Es war jedoch eine unwahre Aussage, dessen Fehler in ihrer Basisannahme eingenistet war. Veränderungen sind gut, denn Stillstand bedeutet das verloren gegangene Leben. Aber Nicht jeder Anfang ist gut. Jeder Anfang hat etwas Gutes, gleichsam wie Schlechtes. Oder gibt es Anfänge, die nur Schlecht sind oder nur Gut sind? Die Beantwortung dieser Frage ummantelt die Vorausgesetzt, dass wir ein Einverständnis über die Gegebenheiten der beiden Zustände treffen, ansonsten finden wir uns nur in fluide Behauptungen wieder, die niemals eine reale Bewandtnis haben werden. Aber sollten wir überhaupt noch über den Anfang reden, wenn wir mitten in dem Zustandsstrudel gefangen sind, der sich täglich selbst bedingt, mit dem Sorgenvollen blick auf das Morgen? Wem schenken wir gerade Aufmerksamkeit? Dem Jetzt? Aber das Jetzt konnte nur durch den Anfang entspringen. Also doch „alles zurück auf Anfang“, würde mein Großvater sagen und dabei eine Schallplatte in seinen Händen wenden. Aber ich wollte nicht zurück zum Anfang. Hier gefiel es mir allerdings auch nicht. Es muss sich irgendwas ändern. Aber was?
Paradox war es sowieso, dass sich die Stille um die Häuser legte, Vorhänge zugezogen blieben und sich das blau schimmernde Licht von Monitoren über sie ergoß und doch die Sonne dem Nachthimmel glich, als sei ein ganz normaler Tag vergangen. Die Komplexität dieses Zustandes war unbegreiflich, hatten wir doch gestern noch den Nachbarskindern einen Geldschein in die Hand gedrückt, damit sie sich beim Eismann eine zart fließende Leckerei ihrer Wahl aussuchen konnten. Nun war der Rasen leer. Ein großes Spielzeugauto und eine mit Blümchen bemalte gelbe Schaufel lagen im Vorgarten als seien sie hinterbliebene Waffen eines längst vergangenen Krieges.
Ich zog den Reisverschluss meiner Jacke bis zum Hals, dabei ließ ich deine Hand los. Der Zufall wollte es, dass wir uns trafen. Vor einige Zeit. Jetzt waren wir die Letzten, die sich Wärme schenken konnten.
Das Wasser des Sees glitzerte Hinter den Bäumen hervor, als wollte es mit jeder Erscheinung mehr Aufmerksamkeit erlangen. Es pulsierte, wie ein Marathonläufer hinter der Ziellinie. Der Wind strich auch mir durchs Haar. Heftiger als erwartet. Mit jedem Luftstoß wurde mir das Leben bewusster. Ich balanciere oft zwischen der Wichtigkeit und der Belanglosigkeit meiner Selbst.
Glückseligkeit ist eigentlich nur ein verstricktes Bündel aus erfüllten und unerfüllten Erwartungen an unsere Umwelt und dem daraus resultierenden Bild der eigenen Person.
Ich würde gerne Tanzen, dachte ich. Doch verletzt durch die eisige Kälte blieb ich starr. Du warfst einen Stein ins Wasser und freutest dich. Wie ein Kind. Mündig zu sein seinem Bewegungsdrang zu erklären ist ein Phänomen. Du konntest es. Gut sogar. Als wir zurück liefen war es fast so, als hörten wir die Stimmen der anderen hinter den Bäumen. Fast.

Anfang

Deine Welt gibt es schon.

Ich stehe am Kurfürstendamm. Der Kurfürstendamm. Einkaufsmeile. KaDeWe. Zu seiner Zeit ein Zauberland. Eine glitzernde Konsumstätte der Elite. Unterhaltung. Fiktion. Fantasie. Eleganz. Und ich. Ich stehe hier. 2020. Warte auf die Bahn. Das Mysterium längst dem harten Alltag gewichen. Grüne Wände. Auf jeder Bank eine schlafende Person. 5 Minuten noch. Der Schaubühnenabend steckt mir in den Knochen. Mark Waschkes Stimme schwirrt mir mit hoch philosophischen Lebensfragen im Kopf. Die Anzeige flimmert. 4 Minuten. Wer bin ich eigentlich und was habe ich von meiner Übergebung übernommen? Bin ich überhaupt Künstlerin, wenn ich mich durch die schnellen Umstände meines Alltags in einer, nach Leistung strebenden Gesellschaft verliere? Und tut genau dies ein Künstler nicht auch?

Louis Hofmann und Max Schimmelpfenning stehen an der Bar und bestellen sich eine Brezel. Ich sehe sie an und frage mich wie es sich wohl anfühlen muss: Die Einverleibung der Kunst in einem jungen Körper. Sie fangen an etwas zu tanzen. Schauspieler halt. Sind sie frei? Auf jeden Fall fühlen sie sich in der Lage ihren Körper zu ihrem Gemütszustand zu bewegen. Das kann nicht jeder. Das sollte auch nicht jeder. Aber Schauspieler dürfen das. Sie sollten es sogar. Oder?

Ich steh also am Kurfürstendamm. Einige Männer in grell-roten Warnwesten bekleben Plakate. Sie amüsieren sich sehr über das vollbusige Model. Das eine oder andere Kommentar unter der Gürtellinie ertönt. Es schnallt unaufhaltsam den Bahnhof entlang und verzerrt sich in seine Wiederholung. Wieso ist die Welt eigentlich so? So unaufhaltsam merkwürdig.

Du steckst dir einen Löffel Eis in den Mund. Ich mache ein Foto. Du siehst aus, als würdest du mit dem Eis diskutieren.
Wir diskutieren viel. Also du und ich. Wir wollen auch viel. Kunst, Liebe, Leben, Momente, Innovation. Weiterkommen. Nicht zuletzt sehe ich dich oft an und suche nach Erklärungen in dir, die eigentlich aus mit kommen müssten. Zwei Murmel- Seelen eben, die ihre Bahnen noch nicht gefunden haben. Und sich doch entschließen zusammen zu kullern.

Nun laufe ich mit meinem Handy vor der Nase von der U-Bahn zu mir nach Hause. Ich merke wie hinter mit jemand näher kommt. Schnellen Schrittes. Neben mir taucht ein Weihnachtsbaum auf, über den ich fast stolpere. Ich bin erstaunt über die Tatsache wie sich manche Menschen so lange das Weihnachtsfest erhalten.
Kann moderne Schreib und Dichtkunst überhaupt noch etwas romantisches haben, wenn es auf kleinen flimmernden Bildschirmen entsteht? Oder sollten wir Dichterinnen und Denkerinnen nicht auf Papier zurückgreifen, um jedem Wort seine individuelle Emotion zu geben? Die Person hinter mir holt mich ein. Und zieht vorüber. Sie isst Hühnchen aus einem Plastikbehälter. Ich frage mich was schlimmer ist. Das Festhalten von Schrift auf Mini-Computern oder Nahrungsmittel mit Erdölummantelung?

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